Pädagogische Gedanken zum Corona Lockdown – Was brauchen Kinder jetzt?
Liebe Interessierte! „Lasst uns wieder Schule spielen!“ Diese Idee von Anne ( Drittklässlerin) wurde von Tom, Felix und Julian (1., 2. und 3.Klasse, Namen geändert) nach der Hofpause begeistert aufgenommen. Alle vier Kinder waren nun in der 4. Woche jeden Morgen in der „Notbetreuung“, jeden Morgen andere LehrerInnen, keine KlassenkameradInnen, keine FreundInnen…
Ihre Wochenaufgaben hatten sie mehr oder weniger bereitwillig erledigt, doch war ihr Ringen um Konzentration bzw. eine Unruhe spürbar…Vor der Pause hatte Anne bereits mit dem Erstklässler „Schule gespielt“: Sie hatte ihm Matheaufgaben an die Tafel geschrieben.
Schnell waren die Rollen verteilt: Die beiden Drittklässler waren Schulleiter und Lehrerin, die anderen beiden Schüler. Auch ich erklärte mich bereit, Schülerin zu sein. (In meinen eigentlichen Funktion als Religionslehrerin in 2 Schuljahren hatte ich an diesem Morgen „Betreuungsdienst“.) Wir drei wurden nun mit Aufgaben an der Tafel, Arbeitsblättern und flott entworfenen Tests versorgt, Deutsch-, Mathe- und auch Kunstaufgaben waren dabei.
Bei guten Leistungen wurde das Überspringen einer ganzen Klassenstufe in Aussicht gestellt, bei schlechten eher das Sitzenbleiben…
Alles wurde ohne Murren akzeptiert, mehr noch: Die beiden „Kleinen“ arbeiteten mit höchster Konzentration, absolut ruhig und mit zunehmenden Eifer. Sie fieberten der Rückmeldung der beiden anderen entgegen! Die Motivation war um ein Vielfaches höher als bei der Erledigung ihrer „echten“ Aufgaben.
Dieses Erlebnis beschäftigte mich noch Tage danach. Was zeigte dieses Spiel? Die Kinder hatten sich darin das geholt, was ihnen fehlte: Klare Verhältnisse, Strukturen, die sie kannten, klare Rollenaufteilung, Aufgaben, Begegnungen, Rückmeldungen. Sie hatten sich einen Raum geschaffen, einen Resonanz-Raum, der ihnen vertraut war. In diesem Raum wirkten sie ganz bei sich, engagiert, eifrig und fröhlich.
Diese vier Kinder konnten seit einer Weile in die Schule gehen, ihre Eltern hatten ein Recht auf „Notbetreuung“. Die meisten anderen hatten und haben seit Wochen eine Situation, in denen ihnen wesentliche Säulen weggebrochen sind. Zum einen sind dies die Schule oder der Kindergarten. Beide Institutionen haben Wege der Kommunikation gefunden, die jedoch nur sporadisch oder indirekt, durch Medien gefiltert, möglich sind. Dieser fehlende Kontakt bedeutet das Fehlen von Zuspruch, Empathie, Bindung, Resonanz durch Pädagogen, ErzieherInnen, LehrerInnen. Überdies war und ist es den Kindern je nach Schulstufe über Wochen weitgehend nicht möglich, Freunde zu sehen, Training in Vereinen wahrzunehmen oder Kontakt zu Großeltern zu pflegen.
Der Wegfall jeglicher sozialen Beziehungen hat die Familien in eine absolute Ausnahmesituation gebracht, in der sie massiv auf sich selbst und ihre inneren Strukturen zurückgeworfen wird. Die Resilienz, die Widerstandskraft jedes Einzelnen und seine Fähigkeit, mit Krisen umzugehen, ist in einem Maße gefordert, wie es die meisten Menschen in unserer Gesellschaft noch nicht erlebt haben! Möglich ist, dass Familien diese Auszeit der besonderen Art als wertvoll erleben. Genauso gut möglich ist, dass familiäre Probleme, die wirtschaftliche Situation oder wiederkehrende Konflikte sich verschärfen und die Isolation und das „Ausgeliefert-Sein“ noch lange in den Kindern nachwirkt.
Wie sie diese Zeit erlebt, ertragen oder genossen haben werden, wird für ihre außenstehenden Bezugspersonen in der „Neuen Realität“ wohl nur in Ansätzen nachvollziehbar, verstehbar werden.
Worauf wird es im Kontakt von Kindern mit ihren ErzieherInnen, LehrerInnen, Betreuungspersonen ankommen, wenn nun ganz allmählich Schritte in eine Art von Normalität gegangen werden?
Ich glaube, dass es in erster Linie um „Containing“ geht: Jesper Juul, der dänische Familientherapeut erklärt Containing als „die Fähigkeit erwachsener Bezugspersonen, kindlichen Gefühlen in emotional überfordernden Situationen Raum und Halt zu geben, damit das Kind diese Überforderung meistern kann.“ (Jesper Juul: „Vom Gehorsam zur Verantwortung. Wie Gleichwürdigkeit in der Schule gelingt.“ Beltz Verlag 2019; S. 168)
Das gemeinsame Gespräch mit der Möglichkeit, in Ruhe und mit Zeit in einen Dialog zu kommen, sehe ich dabei als wesentliche Voraussetzung an! Die Kinder werden vielleicht erst einmal gar nicht viel erzählen wollen, doch ihnen immer wieder, über die kommenden Wochen und Monate hinweg, die Gelegenheit dazu zu geben, ist wichtig und vorrangig: Gespräche in der Gruppe sind dabei genauso wichtig wie die Gelegenheit zum persönlichen Austausch.
Vermutlich werden diese überfordernden Wochen sich eher unter dem Deckmantel von neu auftauchenden Konflikten, Missverständnissen, im Unwillen und fehlender Motivation zeigen. Wochenlang sind den Kindern die Säulen der sozialen Beziehungen außerhalb der Familie weggebrochen – es wird Zeit und Geduld von allen Beteiligten brauchen, sich wieder an andere Menschen zu gewöhnen, wieder Teil einer Gruppe zu werden.
Und die Erzieherinnen, LehrerInnen, Pädagogen selbst?
Jesper Juul nennt als Voraussetzung, dass „der Erwachsene emotional selbst stabil und ruhig ist“ (S.186). Das ist in diesen Zeiten auch für uns eine große Herausforderung!! Je aufmerksamer wir uns selbst um unsere Ressourcen und Kraftquellen kümmern, umso besser können wir den Kindern mit Empathie begegnen und ihnen den nötigen „Raum und Halt“ zu geben.
In meinen Augen liegt in der Begegnung, in der Arbeit mit Kindern in den kommenden Monaten eine sehr große Verantwortung, sie trifft den Kern pädagogischen Tuns. Es geht nicht in erster Linie darum, das Verpasste aufzuholen!
Kinder brauchen jetzt Erwachsene, die „gut stehen“ und im Sinne der Resilienz Zuversicht, Akzeptanz, Flexibilität und Lösungsorientierung ausstrahlen. Ich zitiere noch einmal Jesper Juul: „Das Mitgefühl in schwierigen Situationen, in Situationen, in denen wir überfordert sind“ kann „als emotionale Ressource bewusst aktiviert“ werden und eine wirklich „überraschende … Erfahrung“ werden. „Das geht über die emotionale Anbindung an sich selbst. Mitgefühl ist in diesem Sinne auch eine bewusste Entscheidung.“ (S.186)
So kann Vieles von der Energie, die in die Begegnung mit den Kindern investiert wird, zurückfließen und dadurch auch den erwachsenen Bezugspersonen Kraft geben!